Die Ich-Findung, auch Trotzphase genannt
Dein Kind ist ca. 2 Jahre alt und verhält sich “plötzlich” so negativ und motzig? Widersetzt es sich Dir öfter, ist richtiggehend rebellisch? Wird es schnell zornig und bekommt richtige Wutanfälle, hat mehr Ärger mit seinen Geschwistern, will alles und jeden beherrschen und führt sich ziemlich selbstbezogen auf?
Ich beglückwünsche Dich! Dein Kind ist in der Ich-Findung. 😉
Im Allgemeinen ist diese Zeit auch bekannt als Trotzphase. Warum? Trotz drückt Widerstand aus, oft begleitet mit Feindseligkeit und heftigen Gefühlsausbrüchen. Kinder wollen auf ihren Willen beharren, der häufig genau gegenteilig zum Willen der Eltern ist.
Was passiert mit Dir, wenn Dein Kind trotzig wird?
Na, Du bist am Anfang sicherlich verunsichert und fragst Dich “Huch, was passiert denn hier?”. Und Stück für Stück keimen in Dir Gedanken auf, wie: “Das lass ich mir aber nicht gefallen. Du kannst aber was erleben! Höre gefälligst, wenn ich dir was sage!” Ängste entstehen, dass Dein Kind Dir auf der Nase herumtanzen könnte oder dass andere denken, es wäre unerzogen. Das alles treibt Dich, je nachdem wie heftig „trotzig“ Dein Kind ist, in sehr wahrscheinlich folgende Handlungen: Schimpfen. Heftiges Maßregeln. Schreien.
Und warum passiert das? Weil Du Dich überfordert fühlst und irgendwie damit umgehen musst, dass Dein Kind nicht mehr das tut, was Du willst, sondern das was es selbst will.
Es entsteht ein hübscher Negativ-Kreislauf: Du sagst etwas zu Deinem Kind, Dein Kind tut es nicht oder tut genau das Gegenteil, Du ermahnst es, es interessiert es nicht, Du wirst ärgerlich, es wird bockig, Du schreist, Dein Kind schreit. Das Ende vom Lied ist Unfrieden und Unwohlsein. Dein Fokus gerät aus der Balance. Alles beginnt sich um das Verhalten, vor allem um das Fehlverhalten zu drehen. Du agierst reagierend auf Situationen und versuchst alles, um das “negative” Verhalten Deines Kindes abzustellen. Welch anstrengendes Familienleben…
Ich persönlich finde, dass das Wort Trotzphase äußerst unpassend ist für diese Zeit. Denn “Trotz” ist in unseren Köpfen etwas Negatives, das bekämpft werden sollte. Ganz ehrlich, das wird dieser Zeit und Deinem Kind nicht gerecht.
Deshalb nenne ich diese Zeit gern die “Ich-Findung”. Diese Zeit ist nämlich eine so wichtige Entwicklungszeit, in der viele Weichen gestellt werden, wie Dein Kind in Zukunft mit sich und anderen umgehen wird. Es geht also nicht darum, diese Zeit möglichst schnell hinter sich zu lassen, sondern möglichst intensiv zu gestalten für den größtmöglichen Lerneffekt für Dein Kind.
Aber lass uns am Anfang beginnen. Schau mit mir mal in diese Zeit genauer rein.
Ich-Findung: Eine besondere Zeit!
Eben ab ca. dem 2. Lebensjahr (bei dem einen früher, bei anderen später) verändert sich für Dein Kind grundlegend alles:
Es ist an der Zeit…
… sich von der Symbiose mit der Mama zu lösen.
… das Forschen einzustellen.
… anzufangen, sich zu erinnern und wirklich effektiv nachzudenken, wie man etwas machen kann sowie verantwortlich zu werden.
… festzulegen, wie man in der Gemeinschaft leben, mit anderen zurechtkommen und sich auch um andere “kümmern” möchte.
… davon frei zu werden, sich nur um sich selbst zu drehen.
… Machtkämpfe zu provozieren, wütend zu werden und immer genau das Gegenteil zu wollen was andere einem sagen.
Weißt Du, Gott läutet diese Entwicklungszeit so genial ein, denn er schenkt deinem Kind ein ganz spezielles Wort: “Nein!”. Jetzt beginnt es, dass Dein Kind seine Unabhängigkeit und Individualität entwickelt. Seine Persönlichkeit nimmt seine ganz einzigartige Form an. Dein Kind muss sich jetzt damit befassen, wie man sich “richtig” benimmt, es lernt die gesellschaftlichen Anforderungen und Regeln kennen. Es fängt langsam an zwischen gut und böse zu unterscheiden und für sein Verhalten verantwortlich zu sein.
Dass das in Deinem Kind Unbehagen hervorruft, ist völlig verständlich. Es macht es unruhig und auch wütend.
Was Dein Kind jetzt am nötigsten braucht, ist ein liebevolles “Hindurchmanovrieren” durch diese turbolente Zeit.
Es braucht geduldige und barmherzige Eltern, die ihrem Kind Grenzen setzen und ihm helfen, diese einzuhalten.
Beispiele
- „Du bleibst am Tisch sitzen, bis Deine Schwester mit essen fertig ist mit Essen.“
- „Erst nach dem Zähneputzen lese ich Dir die Gute-Nacht-Geschichte vor.“
- „Gemalt wird nur auf dem Papier. Malst Du nochmal auf den Tisch, nehme ich die Stifte weg.“
Dein Kind braucht den Raum und die Möglichkeiten, sich von der Symbiose zu Dir zu lösen, um zu lernen, dass es eine eigene Person ist, die getrennt von Dir leben kann. Deshalb wird sich der größte Widerstand wohl auch gegen die Mama richten. Dein Kind muss sich reiben, schleifen können.
Beispiele
- Du musst Einkaufen gehen und kannst das Buch nicht zu bis zum Ende mit Deinem Kind anschauen. Dein Kind zetert und schreit, dass es nicht mit will. Du kannst Deinem Kind dann sagen: “Du bist jetzt wütend auf mich, weil ich dir nicht weiter vorlesen kann. Das verstehe ich. Du lässt dir gern vorlesen.” Sprich mit Deinem Kind in Ruhe, finde eine Lösung: “Wir gehen jetzt wie besprochen einkaufen und danach lese ich dir zu Ende vor.”
- Dein Kind fängt schlimm an zu weinen, dann warte ab und beobachte es, benenne, was Du wahrnimmst und reagiere darauf. Dann kannst Du sagen „Oje, Du bist gerade richtig traurig und weinst. Komm her, ich nehme dich mal fest in den Arm.“ Dabei kannst Du ihm entgegenkommen.
- Dein Kind steigert sich in Wut rein, dann kann man sagen „Du kannst dich gar nicht recht beruhigen, so groß ist dein Ärger. Ich lass dir mal einen Moment Zeit und geh mal kurz in die Küche und komme gleich wieder“. Wenn Dein Kind keine Aufmerksamkeit mehr bekommt, dann beruhigt es sich manchmal ganz schnell wieder.
Und dein Kind darf und muss jetzt lernen dürfen, unabhängig zu denken.
Beispiele
- Wenn es Hunger hat, dann greift es ungefragt in die Keksdose. Wie cool! Es weiß, wie es allein Essen beschaffen kann, um nicht zu verhungern.
- Dein Kind möchte Malen und findet keine Stifte. Aber es weiß, dass in Mamas Handtasche etwas zum Malen ist und holt sich den Lippenstift raus.
- Dein Kind entdeckt etwas Schmutz auf dem Küchenboden. Es will dies saubermachen, holt seinen kleinen Eimer, füllt ihn mit Wasser, schüttet diesen komplett auf dem Boden aus, kniet sich hinein und schrubbt mit der Klobürste den Boden.
Prüfe mal diese Denkleistung! Für uns Eltern sind solche Situationen ziemlich anstrengend, aber es ist doch der Hit, wie durchdacht das Handeln Deines Kindes eigentlich ist!
Das Allerwichtigste, was Du Deinem Kind vermitteln solltest:
Zeige Deinem Kind, dass Du es nicht ablehnst, wenn es selbstständig wird!
Beispiele
- “Du hattest wohl großen Hunger, weshalb Du Dir die Kekse geholt hast! Das nächste Mal, fragst Du mich aber, ob Du einen Keks haben kannst.”
- “Es ist so toll, dass Du mir beim Saubermachen helfen willst, Danke. Wir machen den Rest jetzt gemeinsam.”
- Dein Kind hat seinen ganzen Kleiderschrank unordentlich gemacht, sich am Ende aber allein angezogen. “Du kannst Dich schon ganz allein anziehen. Das freut mich. Jetzt räumen wir die restlichen Sachen zusammen wieder in den Schrank.”
Ermuntere es sogar dazu, Dinge auszuprobieren.
Beispiele
- “Nils, Du kannst schon so toll die Becher in den Schrank räumen, probiere mal aus, ob Du auch die Gabeln in die Schublade legen kannst. Das schaffst Du bestimmt auch.”
- “Die Kinder da drüben klettern auf den Steinen herum. Geh doch mal schauen, wie gut Du das schon klappt.”
- Ihr sitzt beim Essen und Dein Kind nimmt Dir das Messer aus der Hand und will damit auf seinem Brot rumschmieren. Lass es zu, reiche ihm die Butter und ermutige es, Butter auf sein Brot zu streichen.
Zeige und sage Deinem Kind immer wieder, dass Du es immer lieben wirst – egal, was kommt.
Beispiele
- “Ich habe Dich so lieb. Wie froh ich bin, dass Du da bist. Du bist ein wunderbares Kind.“
- Nimm es in den Arm, streichel Deinem Kind über den Kopf, tobe mit ihm, kuschelt euch beim Vorlesen aneinander, lege Dich abends kurz mit aufs Kinderbett…
Lege Grenzen fest und hilf Deinem Kind sich darin zu bewegen. Grenzen bieten Deinem Kind Sicherheit. Lies gern dazu meinen Artikel: Mit Klarheit erziehen – Das Familienhaus hilft Dir dabei! , um zu verstehen, warum das so wichtig ist.
Beispiele
- Ritualisiere Abläufe, wie Händewaschen nach dem Nachhausekommen und vor dem Essen, Zähneputzen vor der Gute-Nacht-Geschichte, Frühstücken nach dem Anziehen, Buch vorlesen nach dem Frühstück. So lernt Dein Kind lernt Abläufe kennen: Das Nächste folgt erst, wenn der Ablauf davor erledigt ist.
- Sage klar und deutlich, was Dein Kind darf, was nicht und welche Konsequenz folgt, wenn es das missachtet. Lies hierzu meine beiden Artikel: Die universelle Konsequenz für Kleinkinder (2-6 Jahre) und So bleibst Du konsequent, ohne Dein Kind anzuschreien.
Prüfe, wie Dein Familenleben aktuell so läuft. Vielleicht probierst Du einfach mal aus, den Blick auf Dein Kind zu verändern, so wie ich es eben beschrieben habe. Ich verspreche Dir, es kommt mehr Ruhe und Frieden in euren Alltag, denn der Fokus wird weg vom Negativen gelenkt, Du siehst Dein Kind wieder als ganze wunderbar gemachte Person.
Fazit
Die Ich-Findung ist eine sehr wichtige Entwicklungszeit, damit Kinder selbständig und unabhängig werden in ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Die Kinder tun in dieser Zeit nichts gegen die Eltern, sondern sie tun etwas für sich, für Ihre eigene gesunde Kindesentwicklung.
Eltern sollten viel Verständnis für ihr Kind haben und versuchen hinter die Situationen zu blicken, warum das Kind wie handelt. Eltern sollten klar und deutlich Grenzen aufzeigen, sie konsequent umsetzen sowie korrigierend erklären, warum welches Verhalten nicht gewünscht ist.
So lernt das Kind sich in der Gemeinschaft einzufinden und zu unterscheiden was “gut” und was “böse” ist. Bei alledem darf das Fundament der Beziehung nicht verlassen werden. Das Kind muss wissen, dass seine Eltern es lieben, egal was es tut, auch wenn sie sich über ihr Kind ärgern. So lernt es, dass es eine eigene Person ist, die wertvoll ist und dass sein Handeln gemaßregelt wird, aber nicht sein ganzes “Sein”.
Suchst Du nach Tipps, wie Du sicher durch die Zeit der Ich-Findung mit Deinem Kind kommst? Schreibe mir, ich begleite Euch gern.
Deine Sandra
Sandra Giera ist Familiencoach, Fachreferentin für Erziehung und Mutter zweier Kinder. Mit Herz und Klarheit hilft sie Eltern, die Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, gesunde und glückliche Beziehungen zu schaffen.