Zweisprachige Erziehung – gut für die Kindesentwicklung?
Wie sinnvoll ist es, wenn ein Kind mit 2 Sprachen aufwächst? Lernt es die beiden Sprachen dann überhaupt richtig? Oder kann es am Ende beide Sprachen nur ein bisschen und keine richtig sprechen? Gewinnt oder verliert ein Kind, dass zweisprachig erzogen wird? Wir gehen diesen Fragen einmal nach.
Sabine ist Deutsche und Jacque ist gebürtiger Franzose. Die beiden bekommen eine Tochter: Marielle. Sabine möchte, dass mit Marielle nur Deutsch gesprochen wird, damit sie nicht durcheinander kommt. Jacque ist es aber wichtig, dass seine Tochter auch mit seinen Eltern in Frankreich sprechen kann und möchte ihr gern französisch beibringen. Wann sollte Marielle französisch lernen? Wie gehen Sabine und Jacque jetzt sinnvoll damit um?
Bilinguale Erziehung von Kindern ist hoch gefragt. Wir leben im globalen Zeitalter. Allein in Deutschland war 2019 jede 7. Eheschließung binational – also ein Partner ist gebürtiger Deutscher und der zweite Partner hat eine andere Nationalität inne.
Wie geht lernen in unserem Gehirn
Wenn wir uns über die gesunde Kindesentwicklung Gedanken machen, kommen wir bei der “Zweisprachigkeit” nicht um das Thema “Lernen” drum herum. Denn Sprache wird erlernt. Lasst uns einen kleinen Abstecher in die Welt des Gehirns machen und schauen uns an, wie Kinder lernen. Dabei finden wir heraus, ob zweisprachig aufzuwachsen sinnvoll ist oder eben nicht.
Wunderwelt Gehirn – Wir wissen ohne es zu wissen und lernen, lernen und lernen…
Lernen bedeutet von der Wortherkunft her nichts anderes als “einer Spur nachgehen”. Die gotische Wurzel “lais” heißt “ich habe nachgespürt” und “laists” heißt “Spur”. Auch die indogermanische Wortwurzel ist “lais” und bedeutet “Spur, Bahn, Furche”.
Wer lernt, legt also Spuren an und zwar im Gehirn.
Aber wie genau geht das mit dem Spuren anlegen? Dafür müssen wir uns das Gehirn genauer ansehen.
Das Gehirn hat geschätzt ca. 86 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt. So sieht es ganz stark vereinfacht aus:
Ich habe Dir mal noch ein Bild eingefügt von einer echten, im Gehirn fotografierten, Nervenzelle:
Nervenzellen sind für den Transport von Informationen im ganzen Körper verantwortlich. Der Transport erfolgt über elektrische und chemische Signale. Jedes Neuron hat bis zu 10.000 Synapsen, über die die unterschiedlichen Neuronen miteinander verbunden sind. Alle Informationen gelangen über die Synapsen in die Nervenzellen.
Schau, so sieht eine Synapse aus:
Warum erzähl ich Dir das Ganze? Ganz einfach, die Synapsen zeigen uns an, wie stark wir lernen. Jedes Mal, wenn etwas Neues gelernt wird, entsteht eine neue Verbindung zwischen Nervenzellen, also eine neue Synapse. Du siehst im ersten Bild das Netz, was entsteht, wenn Nervenzellen miteinander über Synapsen verbunden werden. Je mehr Neues gelernt wird, desto dichter wird das Netz – desto mehr Spuren werden quasi im Gehirn angelegt.
Die Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass die Synapsen sich verändern und zwar jedes Mal, wenn ein Impuls über die Synapse läuft. Also, wenn das bereits Gelernte wiederholt wird, verändert sich die Synapse – sie wird dicker. Je mehr etwas wiederholt wird, desto dicker die Synapse.
Das folgende Bild zeigt links eine Synapse zu einem bestimmten Zeitpunkt und rechts siehst Du die veränderte, dickere Synapse:
Je mehr Impulse, auch Aktionspotentiale, über die Synapse laufen, desto größer wird die Synapse. Und je größer die Synapse ist, desto mehr Informationen kann sie vom Aktionspotential aufnehmen und in die Nervenzelle weiterleiten. Das ist ganz schön kompliziert, ich drücke es mal ganz vereinfacht mit dem Bild eines Staudamms aus. Es liegt immer die gleiche Menge an Wasser am Damm an. Wird dieser nur ein wenig geöffnet, gelangt auch nur wenig Wasser hindurch. Wird er mehr geöffnet, gelangt auch mehr Wasser hindurch. Synapsen sind bildlich der Damm.
Und nichts anderes ist Lernen: Im Kopf verbinden sich Nervenzellen, indem Synapsen zwischen ihnen entstehen und diese verändern sich. Das Geniale ist, das Gehirn kann nicht nicht Lernen – es tut dies immer! Das Gehirn ist genau dafür gemacht: lernen, lernen, lernen und das ständig.
Alles hat ein Ende
Aber mit ca. 17 Jahren hört dies auf. Wir lernen dann nicht mehr über das Entstehen neuer Synapsen und deren Veränderung, sondern in dem man „nur“ noch die vorhandenen Synapsen benutzt. Man legt also keine neuen Spuren mehr an, sondern nutzt die vorhandenen. Sind keine Spuren da, kann man sie nicht gehen, man lernt dann einfach schlechter. Hat man viele Spuren, dann kann man diese alle benutzen, man lernt viel leichter.
Kinder lernen demzufolge viel schneller und leichter als Erwachsene. Und Kinder legen während ihrer Entwicklung Spuren in ihrem Gehirn, mit denen sie später als Erwachsene leben und lernen müssen.
Was heißt das jetzt für unser Thema der zweisprachigen Erziehung? Was bedeutet das für Marielle?
Marielle badet in ihrer Muttersprache Deutsch und nimmt alles auf. Übrigens, bereits mit 7 Monaten lernen Kinder die Grammatik der Muttersprache kennen. Wenn Marielle jetzt nicht nur in der deutschen Sprache badet sondern auch in der französischen, dann werden in ihrem Gehirn Spuren für das Sprachenlernen gelegt und die Synapsen werden ordentlich dick. Somit kann Marielle später viel müheloser weitere Sprachen lernen.
Marielle kann nur gewinnen, wenn ihr Papa mit ihr französisch spricht. Sie wird tendenziell vielleicht ein halbes Jahr später aktiv sprechen lernen, da sie ja den doppelten Wortschatz aufbaut, aber nach dem Kindergarten mit ca. 6 Jahren wird sie sprachlich besser sein als Kinder, die einsprachig aufgewachsen sind, da ihr Sprachzentrum viel mehr Spuren aufweist. Zweisprachige Kinder können mit ca. 6 Jahren 2 Sprachen wie Muttersprachler sprechen und werden es auch kaum wieder verlernen. Sie haben dieses Wissen ihr Leben lang und zwar ohne, dass sie etwas dafür tun mussten, ohne dass sie es bewusst wissen.
Es gilt dennoch einige Regeln zu beachten:
- Nur Muttersprachler können die Sprache sinnvoll weitergeben.
Wenn Jacuqe französisch nur in der Schule gelernt hätte, könnte er Marielle nicht zweisprachig erziehen, weil er nicht authentisch in jeder Situation Marielle die richtigen “Impulse” geben könnte
- 1 Person – 1 Sprache
Sabine spricht nur Deutsch und Jaqcue spricht nur Französisch mit Marielle.
- Familiensprache – Umfeldsprache. Es muss für das Kind eindeutig sein, wann welche Sprache gesprochen wird. Innerhalb der Familie muss es eine einheitliche Sprache geben.
Sabine und Jacque sprechen zu Hause z.B. nur französisch miteinander, aber außerhalb des Hauses wird Deutsch gesprochen.
- Eltern müssen akzeptieren, dass das Kind eine bevorzugte Sprache haben wird.
Marielle wird eine “Lieblingssprache” haben, z.B. französisch. So wird sie der Mama, obwohl sie mit Marielle nur Deutsch spricht, auf französisch antworten. Hier braucht Sabine Geduld und sollte keinen Druck ausüben. Marielle wird beide Sprachen gut lernen.
- Viele Impulse in beiden Sprachen geben: Bücher vorlesen, Alltagssituationen, Hörspiele, usw.
Es ist wichtig, dass Sabine mit Marielle deutsche Bücher anschaut, deutsche Lieder singt, deutsche Spiele spielt. Genauso wichtig ist es, dass auch Jacque dies alles mit Marielle tut. Denn sie benötigt zum Lernen viele Impulse!
Fazit
Zweisprachige Erziehung ist sehr zu empfehlen, wenn die Eltern unterschiedliche Muttersprachen sprechen. Kinder lernen mühelos beide Sprachen und erwerben dadurch Kenntnisse, die Einsprachler nicht bekommen. Die Gehirne werden trainiert und Spuren werden angelegt, so dass diese Kinder später viel leichter weitere Sprachen lernen können. Es müssen einige Regeln beachtet werden, damit es keine Verwirrung bei dem Kind gibt.
Interessanterweise wurde sogar herausgefunden, dass Menschen, die zweisprachig aufwachsen durchschnittlich 5 Jahre später an Demenz erkranken, als die “Einsprachler”. Warum ist das so? Weil sie ein sehr viel dichteres Netz an miteinander verbunden Nervenzellen aufweisen. Jede Spur wurde immer doppelt angelegt, zu jeder Sprache jeweils eine Spur.
Hast Du Fragen hierzu? Dann schreibe mir!
Deine Sandra
Sandra Giera ist Familiencoach, Fachreferentin für Erziehung und Mutter zweier Kinder. Mit Herz und Klarheit hilft sie Eltern, die Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, gesunde und glückliche Beziehungen zu schaffen.