Immer wieder begegne ich Eltern, die mir sagen, dass Kindererziehung nicht wirklich so ein großes Thema sei, welches derart diskutiert werden müsse. Immerhin besitze man doch einen gesunden Menschenverstand, nachdem man einfach handeln könne.
Ist das wirklich so? Reicht der gesunde Menschenverstand und die eigene Intuition wirklich aus, um Kinder gesund zu erziehen, sie gut in ihrer Entwicklung zu begleiten?
Was bedeutet eigentlich “gesunder Menschenverstand”?
Der Mensch hat von Gott einen gesunden Verstand geschenkt bekommen. Anders ausgedrückt: der Mensch besitzt ein natürliches Urteilsvermögen. Wir fällen mit unserem Verstand ganz konkrete Urteile und zwar auf der Basis alltäglicher Beobachtungen und Erfahrungen. Man sieht schon, der gesunde Menschenverstand ist sehr praktisch veranlagt. Eine weitere gute Eigenschaft ist, dass er auf die Urteile der anderen Menschen Rücksicht nimmt.
Der gesunde Menschenverstand wird geprägt
Jeder Mensch hat also einen Urteilsvermögen und dennoch fällen wir alle damit unterschiedliche Urteile. Warum? Weil jeder von uns andere Dinge oder Dinge anders beobachtet. Jeder von uns macht unterschiedliche Erfahrungen, da jeder ein individuelles Leben führt. Das beginnt schon damit, dass wir in unterschiedlichen Elternhäusern mit unterschiedlichen Regeln und Gegebenheiten aufwachsen. Wir werden von unserem Umfeld geprägt. Und sogar Geschwister, die dieselben Eltern haben und dasselbe Elternhaus, können ganz unterschiedliche Urteile mit ihrem Verstand fällen.
Treffen jetzt zwei Menschen aufeinander, die in einer Sache unterschiedliche Urteile für sich gefällt haben, wird es schon schwierig. Denn jeder nimmt Rücksicht auf den anderen. Aber nach welchem Maßstab handle ich denn nun in dieser konkreten Sache, z.B. in der Kindererziehung?
Beispiel:
Dafür gebe ich dir mal ein Beispiel, welches ich für die Deutlichkeit etwas übertreibe:
Person A wächst in einer Großfamilie mit 7 Geschwistern auf. Person B kommt aus einer kleinen Familie und war das einzige Kind. Beide werden ein Paar, ergänzen sich gut und bekommen selbst ein Kind. Jetzt werden beide Elternteile mit ihrem gut trainierten gesunden Menschenverstand versuchen ihr gemeinsames Kind zu betreuen und zu erziehen. Kannst Du Dir vorstellen, wie da zwei Welten aufeinander prallen? Person A wird alles ziemlich locker und leicht sehen, alles als nicht so kompliziert betrachten, denn er oder sie hat gelernt, auch ohne die permanente Aufmerksamkeit der Eltern auskommen zu müssen. Person B hingegen hatte sehr wahrscheinlich viel Aufmerksamkeit und wird sich dementsprechend auch mit viel Aufmerksamkeit ihrem bzw. seinem Kind widmen.
Die Grenze des gesunden Menschenverstandes
Bei alldem wird deutlich, dass unser Verhalten geprägt wurde. Wir handeln aufgrund unserer Erfahrungen. Und das ist prinzipiell nicht schlecht. Man kann und sollte in der Kindererziehung unbedingt seinen Verstand gebrauchen. Dennoch zielt dieser leider nicht auf die Bedürfnisse meines Gegenübers ab. Und hier hat der Gebrauch des gesunden Menschenverstands seine Grenze. An dieser Grenze muss es aber irgendwie weitergehen. Tut es auch, denn an dieser Stelle muss eine weitere wichtige Sache angewendet werden, der für eine gesunde Kindererziehung absolut notwendig ist. Ich muss den Fokus weg von mir und meinen Erfahrungen nehmen und mich hinwenden zu den Bedürfnissen meines Kindes.
Beispiel:
Wenn ich super Erfahrungen als Kind gemacht habe, ausdauernd im Wald zu spielen, dann möchte ich meinem Kind dies auch ermöglichen. Wenn mein Kind aber ein totaler Bücherwurm und ein Gemeinschaftsspiel-Spieler ist, dann muss ich ihm auch dafür den Raum geben, statt ihn ständig zu zwingen im Wald zu spielen, wo es sich vielleicht gar nicht so daran erfreuen kann, wie ich es als Kind tat. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, es hat mir damals gut getan und Kinder brauchen viel frische Luft und Bewegung. Das stimmt. Aber das ist nicht alles, schon gar nicht für ein Kind, das sehr gern daheim ist. Hier bin ich als Mama herausgefordert auch die Bedürfnisse meines Kindes zu beachten, um ihm eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen.
Fazit
Eine gesunde Kinderbetreuung und Kindererziehung steht also grundsätzlich auf zwei Beinen: Mein Erfahrungs- und Wissensschatz sowie die Bedürfnisse meines Kindes. Ich kann mit meinen Erfahrungen intuitiv gesund mein Kind erziehen, vor allem in elementaren Dingen – keine Frage! Aber das hat Grenzen und hier muss ich offen dafür sein, von meinen Erfahrungen weg hin zu den Bedürfnissen meines Kindes zu schauen und dabei offen sein, zu lernen.
Hat Dich mein Artikel weitergebracht? Möchtest Du wissen, wie Du die Gradwanderung zwischen diesen beiden Themen bewältigen kannst? Dann freue ich mich, wenn Du mir schreibst.
Deine Sandra
Sandra Giera ist Familiencoach, Fachreferentin für Erziehung und Mutter zweier Kinder. Mit Herz und Klarheit hilft sie Eltern, die Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, gesunde und glückliche Beziehungen zu schaffen.